Tausche Sondermarke gegen 466 und 471

Essen, 1. Juni 2006.

"Wer sich einen ersten Überblick über New York verschaffen will, kann die Aussichtsplattformen auf dem World Trade Center und auf dem Empire State Building erklimmen, um das überwältigende Panorama zu genießen."

Es gibt sie also noch, die heile Welt, ohne langbärtige Flugschüler. Zumindest in unserem Baedecker-Reiseführer "USA Nordosten", Auflage 2005. Da soll noch einer sagen, man bekäme für 19,95 Euro nicht einen hochwertigen, penibel recherchierten und redigierten Touri-Schmöker. Vielleicht ignoriert der von der Allianz gesponsorte Reiseführer bestimmte Ereignisse aber auch nur, um niemanden auf mögliche Versicherungsansprüche aufmerksam zu machen.

Learning polite American English Part I: 'No, that's right we don't have dishwashers in Germany. Wasn't it an American who invented it?'

Bald geht es also los. Ich übe schon fleißig die ca. zwanzig englischen Wörter, die man in Amerika so braucht für die alltäglichen Dinge, einen Small-Talk oder eine Rede an die Nation. Ein leichtes Völkchen, diese Amis, vor allem leicht zu beschaffen. Meine amerikanischen Spielerbilder für das Panini-WM-Album hatte ich in kürzester Zeit vollzählig. Ausgerechnet ein Spieler des WM-Favoriten Trinidad&Tobago mit dem schönen Namen Glenn schien dagegen eine echte Rarität zu sein und stand lange auf der Liste der zehn noch fehlenden Sticker.

Jetzt fehlen nur noch zwei Franzosen, was mir dieses Volk auch nicht gerade sympathischer macht. Dank umfangreicher Kontakte erwarte ich die Bilder aber täglich in meinem Briefkasten. Dafür hat Hella von Sinnen jetzt meine doppelte Panini-Sondermarke, die unter Sammlern besonders begehrt ist. Die deutsche Mannschaft hatte ich übrigens auch relativ schnell komplett. Gestern haben wir uns die Jungs dann mal in Natura angesehen - zusammen mit etwa 40.000 anderen Menschen, die auch das Training in Düsseldorf verfolgen wollten. Fußball muss schon etwas sehr besonderes sein.

Learning American English Part II: 'Learning polite American English Part II: 'No, that's right. We don't have electric guitars in Germany. Remember there's no electricity in Europe. It's really great you have that over here.'

Nach WM und USA steht dann ein weiterer großer Einschnitt in meinem Leben an: der Kindergarten. Stichtag ist der 14. August. Bis jetzt gehe ich davon aus, dass das ein großer Spaß wird, obwohl ich viel lieber direkt in die Schule gehen würde. Mama ist da auch immer. Oder ich lasse alles komplett bleiben und gehe direkt ins Showbusiness. Ein erstes Fotoshooting für eine Anzeigenkampagne des Kinderschutzbundes mit einer echten Olympiasiegerin war schon sehr aufregend. Und dann bin ich auch noch Protagonist im Musikvideo einer aufstrebenden Band, deren Aufstreben leider auch zur Folge hat, dass mein Tagebuch nicht mehr so allzu häufig aktualisiert werden kann. Und da jetzt auch noch die WM ansteht, übernehme ich für das Veröffentlichungsdatum dieser Zeilen auch keine Verantwortung.

Wie ich übrigens auch keine Verantwortung mehr für das Wetter übernehme. Vorgestern war ich kurz davor noch einmal die Schneeketten für mein Laufrad aus dem Keller zu holen. Klimakatastrophe oder ein sensationeller Plan des OK-Präsidenten Beckenbauer, um die Südamerikaner schon in der Vorrunde an Erfrierungen scheitern zu lassen? Wer könnte das in die Wege leiten, wenn nicht Kaiser Franz? Womit wir schon wieder bei der WM sind. Hoffentlich macht das Leben nach dem 9. Juli weiter einen Sinn.

See you!
Glen


Warum hat die Uhr geknallt?

Essen, 1. April 2006.

Die Umzugspläne sind vom Tisch. Der Versetzungsantrag ist im Altpapier gelandet. Essen ist ab sofort Mamas Lieblingsstadt in der näheren Umgebung. Denn Essen hat jetzt eine Dunkin' Donuts-Filiale. Ich freue mich mit ihr und sehe schon des Öfteren einen hellblau glasierten Donut für mich abfallen. Allerdings beschleicht mich auch die Sorge, dass nun der vielleicht einzig wirklich triftige Grund entfallen ist, nach Boston zu fliegen. Ich bin jedenfalls schon sehr gespannt, was mir Air France so zu bieten hat. Niedliche Schnecken und herrliche Froschschenkel? Aber abgesehen von den Stewardessen soll es ja auch ein leckeres Catering geben.

Und danach geht es dann ganz gepflegt zur Bordtoilette. Denn, falls ich es noch nicht erwähnt haben sollte - ich bin seit etwa einem Monat trocken. Mein Papa hat das übrigens seit Jahren schon nicht mehr geschafft. Aber das nur am Rande. Wenn ich jetzt noch auf Urinal-Höhe wachse kann ich endlich im Stehen pinkeln und bin ein ganzer Mann. So hat man mir das jedenfalls neulich erklärt, am Tresen in der Eckkneipe. Ne, war nur ein Spaß! Keine Sorge, ich gehe da nicht regelmäßig hin und besaufe mich. Dafür bin ich natürlich viel zu jung und Marihuana schmeckt viel besser. Nein, war wieder nur Spaß. Ich weiß ja schließlich, wie lebensgefährlich das Rauchen ist. Deshalb nehme ich die weichen Drogen ja auch nur in Keksform zu mir. Was natürlich ein weiterer Scherz ist. Ist das eigentlich nervig? Also meine Eltern verdrehen schon manchmal die Augen, wenn ich mal wieder irgendwelche Geschichten erzähle, die letztlich mit dem Schlusssatz enden: "War nur ein Spaß!"

Glen in den 50er Jahren

Woher ich das habe? Keine Ahnung. In unserer kleinen Familie bin ich jedenfalls die erste Humorentdeckung. Mal sehen, ob sich damit nicht irgendwann mal sogar Geld machen lässt. Außerdem sollen die Frauen ja sehr auf Männer mit Humor stehen. Meinen Vater muss sich Mama deshalb wohl wegen des vielen Geldes ausgesucht haben.

Zeit für ein Zwischenfazit: Etwas anzügliches über Frauen im Reiseverkehr, offene Worte zum Konsum stimulierender Substanzen und eine Prise Eltern-Dissen - für einen nicht-einmal-Dreijährigen akzeptabel und für meine Leser aus der Berliner Rütli-Schule ausreichend. Fehlt eigentlich nur noch eine Provokation Gesamtdeutschlands. Hier: Klinsmann macht seine Sache sehr gut, langfristig gesehen, und bei der WM sollte auf jeden Fall der komplettere Torwart stehen, also Lehmann.

Bleibt noch die Frage nach dem "Warum". Eine Frage, die mir täglich mehrere dutzend Mal auf den Nägeln brennt - pro Thema - und bei deren Beantwortung meine Eltern leider nie weiter kommen als bis eine Nanosekunde vor dem Urknall. Wenn ich getauft wäre, würde ich sagen, dass das nicht alles sein kann. Falls dazu jemand einen Tipp hat, kann er ihn an mich weiter reichen oder wahlweise eine Kirche und/oder eine Terrororganisation gründen.

Bis die Tage!
Glen


Warten auf die Erdbeer-Felder

Essen, 20. März 2006.

Das Grün sprießt, ein laues Frühlingslüftchen weht durch die Landschaft und die Menschen halten fröhlich lächelnd ihre Gesichter in die kräftiger werdende Sonne. Endlich, der Lenz ist da! Also in Spanien jedenfalls vielleicht. In der zukünftigen europäischen Kulturhauptstadt (damit ist wirklich Essen gemeint) hat er sich noch nicht blicken lassen. Aber irgendwie kann ich ihn auch verstehen. Ich würde an Frühlings Stelle meinen Navi auch erst mal Richtung "schöne Gegend" einstellen.

Glen-man

Abwesend zeigt sich auch mein Kindergartenplatz. In Deutschland gibt es nämlich nicht nur zu wenig Kinder sondern auch zu wenig adäquate Gartenplätze für solche. Frau Merkel hat erst gestern gefordert, dass Kindergartenplätze umsonst sein sollen. Meine Eltern haben sich zumindest schon mal umsonst um einen beworben. Dann bleibe ich halt bei Papa. Spielzeugreduzierte Erziehung kann der auch.

Was er nicht mehr kann, ist, Beatles hören. Muss er aber. Gelegentlich kann er mir zwar die CD vorenthalten. Aber dann singe ich "Ticket to ride" halt selber. Oder "Love me do". Oder ein anderes von den 27 Nummer 1-Hits. Neuerdings drückt er mir jetzt auch einen mp3-Player in die Hand, um nicht noch mehr Sympathien für Mark David Chapman zu entdecken. Ein guter musikalischer Kompromiss, bei dem wir gemeinsam lauschen, sind ansonsten New Order, Die Lassie Singers oder die hoffnungsvolle Nachwuchsband Cuba Missouri. Neulich durfte ich sogar mal deren Proberaum aufsuchen. Der Drummer schmiss mich mehrmals gegen die Bass-Drum und von da an wusste ich: Selber Musik machen - das ist der Plan, den ich noch mal überdenken sollte.

Glen mit Fischen (v.l.n.r.)

Nichts zu überdenken gibt es in punkto Urlaubsplanung. Es vergeht je beinahe keine Kolumne, in der ich nicht über geplante oder vergangene Reisen zu berichten weiß. Jetzt ist es allerdings schon einige Zeit her, dass mich meine Erzeuger im Handgepäck nach irgendwo versteckt haben. Folgerichtig haben sie jetzt mal wieder zugeschlagen und Flüge nach Boston gebucht - und zwar bei voller Stornogebührandrohung, was den Ernst ihres Ansinnens unterstreicht. So werden wir also noch während der WM (mehr als diese Abkürzung darf ich hier aus patentrechtlichen Gründen nicht nennen) Richtung Amerika abheben und vier Wochen im Land der unbegrenzten Möglichkeiten (gesellschaftlich) bzw. stark begrenzten Möglichkeiten (präsidial) dem "American Way of Life" folgen - so dieser denn ausreichend ausgeschildert ist.

Bis dahin muss ich aber noch reichlich Beatles hören, um wenigstens elementare Konversation betreiben zu können. Ich sehe schon meinen Vater ob dieses schlagenden Arguments zustimmend nicken, während er eine neue Schicht Watte in seine Ohren stopft und seine Unterschrift auf die "Amnestiert Chapman jetzt!"-Liste setzt. Hauptsache er setzt sein Kürzel nicht unter irgendwelche Guantanamo-Petitionen. Sonst nimmt sich noch das Land mit seinen unbegrenzten Möglichkeiten genau die Möglichkeit heraus, uns nicht rein zu lassen. Während ein fröhlich pfeifender Klinsmann neben uns die Passkontrolle passiert und uns dann unaufgefordert informiert: "Wir sind auf einem guten Weg. Bei der nächsten WM ist sogar vielleicht das Viertelfinale drin."

Bis die Tage!
Glen


Goldene Zeiten

Essen, 23. Januar 2006.

Noch 137 Tage, sieben Stunden und 52 Minuten. Dann geht es los. Die Fußball-WM. Wahnsinn. Schon heute fiebere ich dem Turnier entgegen. Bunt bemalte Fans, die schon besoffen ins Stadion kommen, weil es dort nur alkoholfreies Bier gibt. Jede Nacht ein Autokorso, weil irgendwer ja schließlich immer gewinnt. Und natürlich fantastische 0:0-Spiele zwischen Tunesien und Saudi Arabien. Kein Wunder, dass jetzt jeder vom großen Aufschwung redet und sich fünf Millionen Arbeitslose schon heute die Haare waschen, weil sie ja demnächst bestimmt ein Vorstellungsgespräch haben.

Auch Papa hat es schon erwischt. Seit der Gruppenauslosung weiß er schließlich, dass er echte Highlights mit seinen WM-Karten ergattert hat, wie zum Beispiel die Spiele Angola gegen Portugal und Trinidad-Tobago gegen Schweden. Eigentlich hätte man die ersten 160 Tage dieses Jahres auch direkt überspringen können. O.K., im März sind noch ein paar Landtagswahlen. Aber die kann man sich doch auch sparen, jetzt wo alle so glücklich von Tante Merkel regiert werden und alle Deutschen am liebsten nur noch den ganzen Tag schmusen würden.

Optimismus-Glen

Ich könnte auch den ganzen Tag schmusen. Vor allem aber nachts um drei. So für zwei Minuten. Und dann spielen. Oder lesen. Oder singen. Mit der ganzen Familie. Meine Eltern jubeln vor Glück wenn ich um die Zeit bei ihnen im Schlafzimmer erscheine. Beziehungsweise, sie würden jubeln, wenn ich nur eine Erscheinung wäre. Echte Erscheinungen haben sie dann aber erst tagsüber, wenn sie völlig übermüdet ihrer Arbeit nachgehen oder, in Papas Fall, die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln und einen Mindeststandard an Hygiene im Haushalt aufrecht halten müssen.

Sehr hygienisch eingestellt sind auch meine neuen Freunde, die Goldfische. Die meiste Zeit ihres schillernden Daseins nehmen sie die kleinen Kieselsteinchen vom Grund des Aquariums in den Mund, lutschen sie ab und spucken sie dann wieder in hohem Bogen aus. Ich nenne sie übrigens Bulimie I bis V. Ansonsten stehen die kleinen Racker meist nur vor der Entscheidung, ob sie nach links oder rechts schwimmen sollen. Stubenrein sind sie sowieso und wenn ihnen mal ein bisschen Spucke aus dem Mund läuft, fällt das keinem auf. Was für ein glückliches Leben.

Sportjahr 2006: Glen reserviert sich seinen Platz vor der Glotze

Aber beim Thema Goldfische fällt mir doch noch etwas ein, warum man die ersten 160 Tage dieses Jahres nicht so einfach streichen kann: Die olympischen Winterspiele. Nur noch 18 Tage und ein paar zerquetschte Stunden, dann werden vielen deutschen Langläufern und Schlittenfahrern goldene Medaillen umgehängt. Ganz bestimmt. Den sportbegeisterten Landsleuten rate ich deshalb: Nehmt Euch die ganzen Siegerehrungen auf. Es könnte trösten sich das noch einmal anzuschauen, wenn in 154 Tagen und sechs Stunden, Deutschland im Achtelfinale gegen England aus dem Turnier fliegt.

Aber was sage ich da? Wir sind doch jetzt alle Optimisten! Und als eben solcher Optimist hat Papa neulich festgelegt, was auf seinem Grabstein stehen soll: Endlich mal ausschlafen!

Euch allen noch viel Spaß mit diesem Jahr, wünscht
Glen

Als die Panini-Bilder laufen lernten – und Hollywood nicht mehr weit war

Das Sommer-Tagebuch
8. Juni
Alte Freunde rufen unverhofft an. Die Wohnung wird seit einiger Zeit nur noch partiell gereinigt. Roland hat nicht nur sein Kommen angekündigt, er will sogar bei uns übernachten. Das alles sind untrügliche Zeichen dafür, dass ein großes Sportereignis anstehen muss. Und tatsächlich: Dirk Nowitzki steht mit den Dallas Mavericks im Finale der NBA.

9. Juni
Papa schwitzt. Es sind an die 30 Grad. Aber das ist es nicht. Es ist WM-Fieber. Heute wird er erstmals einem echten WM-Spiel live beiwohnen. In der Veltins-, äh, im FIFA-WM-Stadion Gelsenkirchen. Polen - Ecuador ist sicher eine gute Wahl. Wer will sich schon das Eröffnungsspiel mit Deutschland angucken? Papa und Roland jedenfalls nicht. Sie stehen lieber in der Schlange vor dem "Yellow"-Sector-Entrance und erahnen den Spielstand zwischen Deutschland und Costa Rica an den Reaktionen der Polen-Fans, die aus ihrer Heimat per Handy informiert werden. Gelangweiltes Kopfschütteln = Tor für Deutschland. Großer Jubel = Tor für Costa Rica.

10. Juni
Ich zolle der konditionellen Leistung von Roland und Papa Respekt, indem ich erstmals bis 11.30 Uhr schlafe und damit auch ihnen genügend Zeit zur Regeneration lasse. Papa hat eine Reis-Fahne. War wohl doch das ein oder andere Budweiser zu viel gestern. Deutschland hat angeblich eine "Schlappwehr", deren Mitglied Philip Lahm allerdings ein wunderschönes Tor erzielt hat. Es gibt aber auch Experten, die behaupten, dass es egal sei, wie viele Tore Deutschland kassiere, so lange die Mannschaft vorne nur immer eins mehr reinhaut. Endlich mal Fachleute, die sich nicht in Allgemeinplätze flüchten. Deutschland bleibt jedenfalls Geheimfavorit. Ecuador ist in den Kreis der Geheimfavoriten aufgenommen. Dazu zählt auch England, dass sich mit einem souverän erzielten Eigentor der Paraguayer an die Spitze der Gruppe B setzt, weil Außenseiter-Favorit Trinidad und Tobago gegen Geheimfavorit Schweden überraschenderweise nur ein 0:0 erkämpft. Schade, dass der Schuss von Glen nur die Latte trifft. Papa und Roland sind froh, dass sie ihre Karten für dieses Spiel verkauft haben und sich auf den Sofas fläzen können. Dann folgt endlich mal ein schönes Spiel. Favoriten-Favorit Argentinien schlägt Neulings-Favorit Elfenbeinküste, deren Spieler ich wegen der orangen Trikots bis kurz vor Spielschluss für Holländer halte. Hat mich mein Panini-Album belogen?

11. Juni
Jetzt sind es wirklich die Holländer. Durch ein Robben-Tor gegen die mitfavorisierten Serben untermauern sie ihre Stellung als Mitfavorit. Gleiches gilt für Portugal. Roland und Papa sind froh, dass sie ihre Karten für das Spiel der Portugalenser gegen Angola verkauft haben. Sie kämpfen immer noch mit konditionellen Problemen und haben schließlich am Tag darauf wieder einen Stadionbesuch vor sich. Der Geheimfavorit Mexiko fertigt Iran ab, das vor der WM vor allem in islamischen Kreisen als Mitfavorit galt. Toll, was der Fußball bewegen kann. Im Iran dürfen neuerdings sogar Frauen ins Stadion. Und das nicht nur, wenn es zur eigenen Steinigung geht.

PMAugust06a

12. Juni
Der Spieltag beginnt mit einem echten Knaller. Ozeanien-Favorit Australien konzentriert sich voll auf die letzten zehn Minuten und überrascht damit Japan-Favorit Japan, deren Spieler traditionell nach 80 Minuten die Kirsche ruhen lassen. Roland und Papa bekommen davon nichts mit, weil sie auf dem Weg in die Veltins-, äh, ins FIFA-WM-Stadion Gelsenkirchen sind, wo die Altherren-Favoriten aus der Tschechischen Republik auf Fußballentwicklungsland-Favorit USA treffen. Man berichtet mir von einem schönen Spiel, aus dem die tschechischen Mitfavoriten als Favorit hervorgehen. Zuvor aber reiht sich Italien in die Reihe der "enttäuschend spielenden Mitfavoriten" ein, die aber dennoch drei Punkte kassieren.

13. Juni
Ich werde nach Köln verfrachtet, um Papa eine bestmögliche Vorbereitung auf das Polen-Spiel zu ermöglichen. Nach dem gestrigen Spiel kämpft er mit Schwindelanfällen. Während der Fahrt fallen die vielen deutschen Fahnen auf, die am Autobahnrand liegen. Der Fahrtwind ist kein Patriot. Der WM-Klassiker Südkorea-Togo endet irgendwie und anschließend zeigt Frankreich, dass es seit der letzten WM nichts verlernt hat. Die Schweiz wird nach einem mitreißendem Unentschieden zum Alpen-Favoriten. Top-Favorit Brasilien ist nach dem Sieg gegen Kroatien nur noch Mitfavorit. Auch Ronaldo plagen nach dem Spiel Schwindelanfälle. Er hat sich wohl während seines Stellungsspiels im freien Raum zu häufig um sich selbst gedreht.

14. Juni
Immer mal wieder-Favorit Spanien macht die Ukrainländer zu den geheimsten Favoriten überhaupt und im Top-Spiel schenken sich Saudi Arabien und die Tunesienser nichts, außer jeweils zwei Tore. Roland und Dirk sitzen beim Langweiler Deutschland - Polen im Signal-Iduna, äh, FIFA-WM-Stadion Dortmund. Verzweifelte Fans bieten ihnen vorher bis zu 1000 Euro für ein Ticket. Aber die Entscheidung, trotzdem selbst ins Stadion zu gehen, erweist sich als vollkommen richtig - erstmals gibt es deutsches Bier im Ausschank.

15. Juni
Ich komme zurück nach Essen, wo Papa mittlerweile seine Stimme wieder gefunden hat. Durch ein 3:0 der Ecuadoriaker wird die Gruppe A für Costa Rica und Polen zur Todesgruppe. England unterstreicht dagegen ein Mal mehr, dass sie wirklich das beste Team seit 40 Jahren haben. Wenn auch vielleicht nicht gerade in fußballerischer Hinsicht. Schade um die Trinidad und Tobagolesen. Schweden hat sich einiges von Deutschland abgeguckt und wartet bis zum Schluss mit einem Tor. Knapp ein Drittel aller WM-Spiele liegt bereits hinter uns. Zeit für ein erstes Fazit: Es ist eine sehr gute WM. Zumindest für die Hersteller von Autofenster-Standarten.

PMAugust06b

16. Juni
Komisch: In Gelsenkirchen läuft ein Spiel und Papa sitzt vor dem Fernseher. Bisher war er doch bei allen Spielen in der Aren, äh, im FIFA-WM-Stadion Gelsenkirchen?! Ob ihm Budweiser jeden Spaß genommen hat? Argentinien schießt mal eben sechs Tore und jetzt dämmert auch dem Letzten, warum sich die Montenegroiten von Serbien getrennt haben. Holland erkämpft sich auf Gras das Weiterkommen. Klar. Aber während des Spiels hallen unüberhörbare Gesänge durchs Stadion: "Ohne Holland, fahr'n wir nach Berlin". Gut, es heißt ja auch "Die Welt zu Gast bei Freunden". "Die Welt" – von Holland ist da keine Rede. Und "bei Freunden" kann sich auch unmöglich auf Stuttgart, wo die Oranjes spielen, beziehen. Sonst würden die dort anders sprechen. Jetzt kann ich nur noch ein Mal die Elefanten auf den Trikots der Elfenbeinküsterianesen bestaunen. Aber zurück zu den Nettigkeiten im Stadion. Abends in Hannover. Jedes Mal, wenn der angolanische Torwart den Ball abschlägt, rufen ihm 40.000 mexikanische Anhänger ein freundliches "culo" hinterher. Oder sollte ich besser sagen "hinternher"? Die Angolaniker sind als alte Kolonialportugiesen jedenfalls des Spanischen auch ein wenig mächtig und ärgern zurück. Allerdings nicht nur die Mexikonen. Mit einem 0:0 sind alle bedient.

17. Juni
Der Tag der deutschen Einheit wurde in weiser Voraussicht nach der Wiedervereinigung als Feiertag abgeschafft. Wer will schon ständig an den Horror erinnert werden? Portugal hat keine Vereinigungsprobleme und haut den Iran raus. Das Land ist aber so klein und die Raketentechnik der Iranesen noch so unausgereift, dass man in Lissabon wohl kaum mit der Ankunft der ersten A-Bombe rechnen muss. Johannes B. Kerner kann mich mit seinem aufgesetzten Rummenscheln nicht mal mehr nerven, weil es keine Hilfe für ihn gibt. Und irgendwie kann er ja auch nichts dafür. Was viele nicht wussten: Johannes ist als kleines Kind beim Toben mit Reinhold Beckmann in einen großen Kessel Weichspüler gefallen. Das wirkt bei beiden noch heute so stark nach, dass man sich beim Hören ihrer Kommentaren mit dem Wunsch ertappt, Sabine Christiansen solle übernehmen. Die von Papa zum WM-Favoriten "hochsterilisierten" (Bruno Labbadia) Tschechisch Republikaner ermöglichen den ersten afrikanischen Sieg. Schön für die Ghanaten und noch schöner im Hinblick auf ein mögliches frühes Ausscheiden der italienischen Mafiosi, die gegen die amerikanischen Mafiosi über ein robustes Unentschieden nicht hinaus kommen. Die gute Nachricht des Abendspiels lautet aber: es gibt wieder Karten! Allerdings nur rote und die auch noch personalisiert auf italienische und amerikanische Ball- und Knochentreter, die sich das Spiel offensichtlich lieber von außen angucken wollen.

18. Juni
Der Trend geht jetzt schon zur Zweitflagge am Auto. Auch mein Laufrad ist natürlich - ganz unverkrampfter neuer Patriotismus - mit einer kleinen Papierfahne staffiert. Papa fährt ins idyllische Münster, um sich drei unansehnliche Spiele anzusehen. Immerhin hat er auch unansehnlich getippt und landet endlich mal richtige Volltreffer damit. Hoffentlich macht er das morgen wieder so. Dann stehen die Chancen auf den Gewinn eines Lego-Fußballstadions nicht schlecht.

19. Juni
Als ich Papa nach einer Analyse der Spiele vom Vorabend frage, kommt er so richtig ins Plaudern: "Lecker Becks vom Fass. Sehr heiß in Münster. Viele Mode-Fans. Hauptsache, Frankreich fliegt raus." Die Togoter sind heute die nächsten Afrikaner, die sich vom Turnier verabschieden. Und das, obwohl rechtzeitig vor dem Spiel noch die Geldkoffer mit den Qualifikationsprämien eingetroffen sind. Als Motivation scheint das nicht zu reichen gegen aber auch wirklich enorm gut aufspielende Schweizländer. Anschließend schießen die Ukrainder leider ein Tor zu viel und lassen eins zu wenig hinten rein. Damit rückt das Lego-Stadion wieder in weite Ferne. Überall lassen es die Saudi Araben krachen, aber wenn es drauf ankommt spielen sie wie Schläfer, die Angst haben, vom CIA enttarnt zu werden. Dabei ist das doch nun wirklich die kleinste Gefahr.

PMAugust06c

20. Juni
Oliver Neuville steckt in einer Krise. Kein Tor gegen Ecuador, gegen die sogar Poldi trifft. Nach dem Spiel kommt es zu einer Premiere. Ich reihe mich zum ersten Mal in einem Laufradkorso ein. Papa ist der glücklichste Mensch auf der Welt. Er hat ein antibiotisches Tuch im Ohr und bekommt deshalb vom Kommentar zum England-Spiel nicht viel mit. Wenn es das Wort "komplett" nicht schon gäbe, Steffen Simon hätte es erfunden. Natürlich hält ganz Deutschland seine Fahne in den Wind. Aber bei Herrn Simon ändert sich die Windrichtung alle zweieinhalb Sekunden. Der Komparativ ist abgeschafft. Es gibt nur Superlative in seinem kompletten Super-Leben. Wenn es das Wort "Arschgeige" nicht schon gäbe, ich würde es für Steffen Simon erfinden. Sowohl Trinidad als auch Tobago beweisen einmal mehr, dass sie trotz Goalgetter Glen nicht wissen, wo das Tor steht und lassen den Schwedianern den Vortritt, gegen uns im Achtelfinale zu spielen. Ab morgen werde ich Geld für einen ARD-Techniker sammeln, der beim nächsten Steffen-Simon-Spiel für Tonprobleme sorgt. "Aktenzeichen xy ungelöst" plant unterdessen eine Sondersendung. Gesucht werden mehrere Millionen Klinsmann-Kritiker. Sachdienliche Hinweise bitte direkt an die "BILD"-Zeitung.

21. Juni
Deutschland einig Fahnenland. Ein Essener Taxifahrer überzeugt mit der reifen Leistung, gleich fünf Flaggen in seine Scheiben gequetscht zu haben. Die Leistung des ZDF lässt dagegen zu wünschen übrig. Statt DAS Top-Spiel der WM, Elfenbeinküste-Serbien Montenegro, zu zeigen, übertragen die doch tatsächlich Argentinien gegen Holland, das wie erwartet langweiligste 0:0 des bisherigen Turniers. Obwohl, welches Turnier? Laut Experten fängt die WM ja jetzt erst richtig an. Habe ich die 34 Spiele bis jetzt etwa völlig umsonst geguckt? Jetzt muss sich also Mexiko im Achtelfinale mit Messi (über dessen unaufgeräumte Wohnung bereits alle Witze gemacht wurden) herumschlagen, während Holland gegen Portugal rausfliegt. Ist nur so ein Gefühl. Aber ein gutes.

22. Juni
Man muss die italienische Mannschaft nicht mögen. Aber wer auf brutale Zweikämpfe, linke Spielweise und theatralisch am Boden liegende Mamasöhnchen mit süßen Zöpfchen steht, dem bleibt eigentlich keine andere Möglichkeit als dem Guantanamo unter den Fußballnationen die Daumen zu drücken. Und wer das tut, wird auch sagen: "Berlusconi hat auch nicht alles falsch gemacht. Immerhin, die Autobahnen in Italien sind gut in Schuss." Immerhin ist das Mini-Guantanamo unter den Fußballnationen, Kroatien, raus. Nichts gegen die Kroatenser - aber wer Deutschland einmal bei einer WM im Viertelfinale rausgeworfen hat, braucht seine Zeit, um neue Sympathien zu gewinnen. Papa hat in diesem frühen Stadium der WM, die ja jetzt erst richtig anfängt, seinen Geheimfavoriten Tschechische Republik verloren. Aber es tröstet ihn, dass sämtliche Wettanbieter seine 100 Euro-Einsätze auf diesen Weltmeistertipp mit dem Hinweis abgelehnt hatten, kein Geld von Kindern und Schwachsinnigen annehmen zu dürfen. Vielleicht versucht er es jetzt mit Ghana, die angeblich das Ansehen ganz Afrikas mit ihrem Weiterkommen gerettet haben. Bisher hatte ich gar nicht den Eindruck, dass - abgesehen von Australien - eine Mannschaft einen ganzen Kontinent repräsentieren kann. Oder gibt es tatsächlich einen allumfassenden afrikanischen Konsens, der neben Fußball auf der Einsicht beruht, ein schicker Bürgerkrieg gehört zu jedem Land einfach dazu? Jedenfalls werden die strenggläubigen Ghanaten im Achtelfinale jetzt auf die nicht minder strenggläubigen Brasilaten. Bei der Entscheidung möchte ich nicht in Gottes Haut stecken.

23. Juni
Hoffentlich fängt die WM jetzt bald mal richtig an. Bis jetzt hat es eher eine Entwicklung hin zum B-Team gegeben. Außer bei Frankreich, die ohne Zidane zum A-Team werden und die schon ausgeschiedenen Togoten sensationell deutlich vom Platz fegen. Aber irgendwie logisch: die Weltmeister von 1998 - ein Unfall - brauchten einen Sieg mit zwei Toren Unterschied und bekamen ihn. Togo brauchte Geld und… Hinter Ultra-Geheimfavorit Schweiz reicht es also zum Achtelfinale, wo dann aber endgültig Schluss ist, weil Gegner Spanien reich genug ist. Die treten gegen Saudi Arabien im letzten Spiel sogar mit einer C-Truppe an und beweisen, dass es doch noch die so genannten "Kleinen" im Weltfußball gibt. Die Ukrainiker spielen in Bestbesetzung und beleben den Mythos einer erfolgreichen Gurkentruppe. Insgesamt sind die Spiele so schwer zu ertragen, dass Papa beschließt abzuhauen.

PMAugust06d

24. Juni
Papa hat mich mitgenommen. Ins Münsterland. Hier werden nicht einfach kleine Fähnchen ins Autofenster gesteckt. Hier werden Fundamente für windradgroße Fahnenstangen gegossen, an denen fußballfeldgroße Flaggen wehen. Komischerweise wirken sie dennoch im Vergleich zu den Einfamilienhäusern, vor denen sie stehen, eher klein. In diesem Landstrich scheint es den Menschen besonders gut zu gehen. Argentinien zeigt, dass es auch ohne große Spielkunst weiter gehen kann. Mexiko, mi amor, es war schön mit dir. Deutschland gewinnt auch schon wieder.

25. Juni
Papa hat ganz kleine Augen. Der Besuch einer Großbildleinwand in der Metropole der Idylle, Münster, wird abgesagt. Papa dämmert lieber auf dem Sofa vor sich hin. England und Ecuador dämmern auf dem Spielfeld. Dann beginnt der Krieg. Die total super süß aussehenden Portugalesen und die ultra sympathischen Hollandiner tun so, als ginge es um die koloniale Vorherrschaft im indo-asiatischen Raum. In Papa wird neuer Lebensmut geweckt. Er richtet sich auf, um die Aneinanderreihung von Zeitlupen brutalster Fouls besser verfolgen zu können. Auch für mich ein tolles Spiel. Es wird von Minute zu Minute überschaubarer und man muss sich nicht so viele Namen der teilnehmenden Akteure merken.

26. Juni
Hatte ich bei der Beschreibung des italienischen Fußballs eigentlich auch darauf hingewiesen, dass sein Erfolg hauptsächlich auf unverdientes Glück und zweifelhaften Schiedsrichterentscheidungen basiert? Natürlich nicht ausschließlich. Aber eigentlich immer. Die immer noch im Turnier befindlichen Ukrainser - warum weiß keiner - und die Schweiz beweisen, dass Übung nicht den Meister macht. Letztere hatten vor dem Spiel extra Elfmeter trainiert - allerdings wohl ohne Torwart. 120 Minuten ging es ständig hin und her, leider nicht rauf und runter, so dass die Entscheidung, auf welches Tor beim Elfmeterschießen geschossen werden soll, alleine davon abhängt, wo weniger Spinnennetze entfernt werden müssen. Immerhin: von sechs feststehenden Viertelfinalisten sind fünf ehemalige Weltmeister. Jetzt kann die WM beginnen.

27. Juni
Das Zeichen dieser WM ist der erhobene Daumen - Ausdruck purer Lebensfreude, einer alles bejahenden Mentalität und Quell positiver Energie. Normalerweise. Im Fußball bedeutet der in Richtung eines Mitspielers erhobene Daumen entweder: "Scheiße, ich war zu lahm, um Deinen Pass zu erreichen" (weil selbstkritisch, sehr selten) oder "Ich bin gespannt, wann Du zum ersten Mal einen Pass spielst, der auch nur den Hauch einer Chance hat, bei einem Mitspieler/mir anzukommen" (sehr häufig). In jedem Fall gilt: Je häufiger der Daumen zu sehen ist, umso schlechter ist das Spiel. Bei den Ghanaten hat der erhobene Daumen die Zusatzoption "Danke für den guten Pass! Aber ich bin leider wieder einmal zu blöd gewesen, den Ball aus aussichtsreicher Position im Tor zu versenken". Unterdessen geht der Altherrenausflug der Franzländer weiter. Von acht Viertelfinal-Mannschaften sind sechs ehemalige Weltmeister. Jetzt kann die WM beginnen.

PMAugust06e

28. Juni
Papa sitzt vor einem schwarzen Fernseher.

29. Juni
Jetzt, da der Beginn der WM endgültig bevorsteht, fliegen wir in die fußballerische Diaspora. Aber wer will schon im Gastgeberland dabei sein, wenn Argentinien und Deutschland das eigentliche Endspiel vorweg nehmen? In den USA werden wir bestimmt zwei Tage nach der Partie eine 30sekündige Zusammenfassung in der Halbzeitpause eines live übertragenen College-Baseballspiels sehen.

30. Juni
Papa ist von einem Tag auf den anderen viel schlanker geworden. Jedenfalls wirkt er so zwischen den ganzen Amis, die ansonsten aussehen wie normale Menschen auch - außer vielleicht, dass sie statt zwei Beinen vier Räder haben und sich ausschließlich damit fortbewegen. Völlig erschöpft und noch schlanker erscheint Papa nach dem Argentinien-Spiel wieder im Tageslicht. Erfreulicherweise haben Durchschnittamerikaner ein Kino im Haus, inklusive Fernseher mit ca. 45 Meter Bildschirmdiagonale. Wenigstens vom Elfmeterpunkt sind also auch die so genannten "großen Mannschaften" zu schlagen. Jetzt ist für die Deutschen alles möglich. Auch eine Niederlage gegen Italien.

1. Juli
Im Fernsehen würde jetzt Brasilien gegen Frankreich laufen. Wir messen diesem Spiel allerdings die richtige Bedeutung zu und entscheiden uns dafür richtig guten Fußball zu gucken. Im Gilette-Stadion spielen die New England Revolutions gegen die New York Red Bulls. Bereits drei Stunden vor dem Spiel kommen wir mit unserer befreundeten Ami-Familie am Stadion an. Oder sagen wir besser auf dem Parkplatz vor dem Stadion. Es entwickelt sich eine bizarre Zeremonie. Sobald die Autos auf ihrem 30-Quadratmeter-Parkplatz stehen, springen die Leute - wir auch - aus ihren Wagen, öffnen ihre Kofferräume und packen riesige Grills, Klappstühle und Kühlboxen in der Größe eines Kleiderschranks aus. Im Handumdrehen sind 30.000 Quadratmeter Asphalt zur Picknickwiese geworden, nur halt ohne Wiese. Vom Nachbargrill hören wir, dass Frankreich Brasilien 1:0 geschlagen hat. Wäre vielleicht doch nicht so uninteressant gewesen, das zu sehen. Zwei Stunden nach Picknickbeginn und ein halbes Dutzend Hot Dogs und Hamburger pro Mann später, wird alles eingepackt und alle gehen endlich ins Stadion, um ein USA-1.Liga-Spiel auf BRD-Kreisklassenniveau zu sehen. Immerhin wird jetzt klar, warum es zu diesem riesigen Picknick -Tailgating genannt - vor dem Stadion kam. Im Stadion kostet ein Hot Dog 8 Dollar, Getränke sind für schlappe 10 Dollar zu haben. Unnötig zu erwähnen, dass trotz der Preise und trotz des mehrstündigen Picknicks alle Zuschauer gleich erst mal zu den Essen- und Getränkestände strömen. Die Eintrittskarten sind mit 18 Dollar übrigens vergleichsweise billig. Also im Vergleich zum Beispiel zu Footballkarten der New England Patriots, die auch hier spielen und für die billigsten Plätze und die unattraktivsten Spiele mindestens 90 Dollar verlangen. Ach, ich vergaß: Das alte England ist natürlich traditionell an diesem Tag durch Elfmeterschiessen vom weiteren Verlauf der WM ausgeschlossen worden.

PMAugust06f

2. Juli
Der erste Tag am Strand. Der Wind ist so stark, dass man die Dünenwanderung im Zeitraffer miterlebt. Einer muss immer bei der Decke und den Taschen bleiben, sonst würde man nach fünf Minuten nichts mehr wieder finden unter dem Sand. Papa liest die New York Times, um Hintergründe zu den Deutschland- und Brasilien-Spielen zu erfahren. Tatsächlich gibt es richtige Bericht dazu im Hintergrund - gleich nach den mehrseitigen Reportagen über ein Frauen-Golf-Turnier.

3. Juli
Wir fahren nach Boston zum New England Aquarium. Überall Fische, kein Fußball. Auf dem Weg im Zug, treffen wir eine deutsche Familie. Erstes Thema ist natürlich die WM. Papa meint, es wäre doch eine Ironie des Schicksals, wenn Italien in Deutschland Weltmeister würde, so wie es umgekehrt 1990 passiert ist. Selbst die der deutschen Sprache nicht mächtigen Mitreisenden schütteln alle unisono den Kopf ob dieser ungeheuerlichen Aussage.

4. Juli
Das Wunder von New England. Papa findet in einer riesigen Mall ein deutsches Nationaltrikot-T-Shirt. Hätte er es doch nicht gefunden. Es kann nur ein schlechtes Omen sein, wenn ein absoluter Fanartikel-Verweigerer plötzlich zum zeigewütigen Patrioten wird. Apropos Patriotismus: Hier ist heute der höchste nationale Feiertag und es gibt noch mehr Fahnen zu sehen, als sonst schon. Da die Amis allerdings kaum noch Platz haben, weitere Fahnen aufzustellen, setzen sie sich kurzerhand mit einer Fahne auf einen Campingstuhl in die Mitte ihrer riesigen Vorgärten und lächeln.
Italien ist auf dem besten Wege, die Prophezeiung meines Erzeugers zu erfüllen. Papa springt nach dem Spiel direkt in den Pool, der leider nicht tief genug ist, um sich ernsthaft das Leben zu nehmen.

5.-7. Juli
Als Zeitvertreib bis zum Verliererspiel machen wir das volle American-Life-Programm: Shoppen, zum Swing-Konzert in den Park gehen, Feuerwehrmännern huldigen oder drei Stunden Baseballmannschaften beim Rumstehen auf dem Rasen zusehen.

PMAugust06g

8. Juli
Es nimmt ein einigermaßen versöhnliches Ende. Die Halbfinalverlierer treffen sich in der Verliererstadt und lassen ihre Kreativleute auf der Bank sitzen. Ein bisschen sieht es nach einem Vergleich von B-Mannschaften aus. Selbst Kahn darf endlich mal wieder in seinen Käfig. Das Spiel verfolgen wir wieder auf einem 300-Meter-Diagonale-Flachbildschirm, dieses Mal bei Mamas Freundin Lisa. Immerhin dauert es 45 Minuten bis sie unruhig werden und das erste mal zum Red Sox-Baseballspiel umschalten. Nach der Halbzeitpause wird dann allerdings jede Spielunterbrechung genutzt, um "kurz" rüberzuschalten." Schließlich sitzt die halbe Familie am Laptop und verfolgt das Baseballspiel per Online-Liveticker.

9. Juli
Tolle Spiele, rassiger Sport, Kampf bis aufs Letzte. Was haben wir nicht für großartige sportliche Momente erlebt in den letzten Wochen. Aber abgesehen von Wimbledon gab es da ja auch noch Fußball. Schade, dass eine so schöne WM so hässlich enden muss. Nichts gegen die Italiener (wie vielleicht bereits mal erwähnt). Die haben es schon schwer genug, seit die Araber ihre sämtlichen Pizzerien übernommen haben. Und dass sie so defensiv spielen, hängt halt mit ihrer Kultur zusammen. Eine Kultur der ständigen Angst vor Mama. Es gibt ja durchaus Leute, die diese Art Fußball mögen. So wie es auch Leute gibt, die immer noch gut finden was Mussolini und Berlusconi so gemacht haben. Und eigentlich hätte man es sich denken müssen, dass man mit langweiligem Zerstörungsfußball am weitesten kommt. Nicht umsonst sind 2004 die Griechen Europameister geworden. Von Otto Rehagel lernen, heißt eben Siegen lernen. Aber, nur um das noch einmal klar zu stellen: Nichts gegen die Italiener, die Doofen.

11.-13. Juli
Papa geht vormittags arbeiten. Verrückte Welt. Anschließend geht es dann wahlweise ins Kindermuseum oder ins Science Museum, nachdem man in Chinatown Dim Sums oder Gemüsereis kauend den Fischen bei ihrem letzten Weg vom Aquarium in den Wok zugeschaut hat. Oder wir bleiben in Mansfield, wo es so wunderbare Dinge zu entdecken gibt, wie die Glen Street oder zum wiederholten Male den Pool von Lynn und Laurie. Und den Knast. Lauries Mann ist hier nämlich ein ganz hohes Tier bei der Polizei und hat somit die Lizenz zum "Kleine Jungs durch eine echte amerikanische Polizeistation führen". Nach allem, was man hier so im Fernsehen sieht, bin ich doch ein wenig enttäuscht. Alle Zellen sind leer. Keine Brandstifter, Raubmörder oder gar Raucher. Sind die Nachrichten hier auch nur Fiktion?

14. und 15. Juli
Gekreische, wie bei einem Tokio Hotel-Konzert. Aber wir sind auf einem kleinen Schiff, drei Stunden von der Küste entfernt und die Begeisterung wird durch eine Gruppe Buckelwale ausgelöst, die zudem noch viel bessere Musik machen. Anschließend geht es zu Lauries Eltern in Dennis, die den vielleicht besten Strand von Cape Cod vor ihrer Haustür haben. Auch hier kann man feinstes Whale-Watching betreiben, obwohl doch eigentlich jeder Ami mittlerweile Mitglied einer Weight Watching-Gruppe ist. Abends kommt Lauries Bruder mit einem Freund vorbei, die von Papa alles über Amsterdam wissen wollen. Für Amerikaner muss diese Stadt das Produkt aus Sodom und Gomorra sein - und damit extrem attraktiv. Noch attraktiver sind für die Bewohner Cape Cods nur noch schwedische Autos. Der ansässige Saab-Vertragshändler muss der reichste Mensch der Ostküste sein. In Provincetown ist beispielsweise jedes zweite Auto ein Saab Cabrio, in dem zwei kuschelnde Männer sitzen. Die kuschelnden Frauen sitzen derweil in pastellfarbenen VW-Beetles.

PMAugust06h

16.-25. Juli
Die letzten zehn US-Tage werden mit Extrem-Shopping, Extrem-Sightseeing und Extrem-Pooling verbracht, bei Extrem-Temperaturen mit Extrem-Portionen. Überhaupt alles ist hier größer. Statt eines Kilometers fährt man hier gleich eine Meile, statt eines Liters bekommt man gleich eine ganze Gallone und die Sesamstraße ist statt dreißig Minuten gleich eine ganze Stunde lang. Immerhin hilft das auch meinem Englisch auf die Sprünge. Ich beginne nun mit Grußformeln und Kommandos um mich zu schmeißen. Meine Spielkameraden sind beeindruckt und machen tatsächlich alles was ich sage. Mein erster kompletter englischer Satz lautet: "I play good Baseball." Das bringt Papa auf eine Geschäftsidee. In naher Zukunft will er in den USA T-Shirts auf den Markt bringen, mit der Aufschrift: Sleepless? Watch Baseball! Zweifel am Erfolg müssen erlaubt sein. George Bush krault unterdessen Angela Merkels Nacken, was in den USA zu moralischer Empörung führt und in Deutschland wahrscheinlich alle Kritiker bestätigt, die meinen, dass alles, was Bush anpackt, schief geht.

26. Juli
In der Abflughalle erinnert sich Papa, dass er die Reisepässe vorsichtshalber bei Laurie auf dem Schreibtisch liegen gelassen hat, was bei einem Air France-Mitarbeiter zu dem Kommentar führt: "No Passport, no Flight." Für eine gute Stunde wird es noch einmal spannend. Aber Laurie hat nur auf einen guten Grund gewartet, die für die freiheitsliebenden Amerikaner ungewöhnlich niedrig gehaltenen Geschwindigkeitsbeschränkungen beiseite schieben zu können und kommt mit einem breiten Grinsen und drei Reisepässen in der Hand noch rechtzeitig zum Flughafen. Von Neuengland geht es wieder ins alte Europa.

27. Juli
Wir sind wieder da.

28. Juli
Unser Gepäck ist wieder da.

PMAugust06i


Glens Archiv Teil III (2005) NEU! Glens dritter Film (2006, ca. 9 MB)
Glens Archiv Teil II (2004) Glens zweiter Film (2005, ca. 2 MB)
Glens Archiv Teil I (2003) Glens erster Film (2003, ca. 3 MB)
Glens Gästebuch Glen Starschnitt 2005 (ca. 1,6 MB)
Top-Quality Glen 2003 (ca. 1,2 MB)

Dies ist eine private Homepage. Verantwortlich für den Inhalt: Dirk Roß. Kontaktmöglichkeit: Dirk Roß, Schnutenhausstraße 9, 45136 Essen, E-Mail: kontakt@inmediasross.de Tel. +49 201 2796793 © 2004-2006 Alle Inhalte und Bilder sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten.